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NINCSHOF

Johanna Sebauer

Roman

368 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen

Erscheinungstag: 18.07.2023
ISBN 978-3-8321-6820-9

Hardcover | E-Book | Hörbuch Digital

Im Vergessenwerden liegt die Freiheit

Nincshof, ein kleines Dorf an der österreichisch-ungarischen Grenze, soll vergessen werden. So der Plan dreier Männer, die sich »die Oblivisten« nennen und raus wollen aus der hektischen Zeit. Wenn niemand mehr von ihnen weiß, können sie und das ganze Dorf in Freiheit und Ruhe leben. Laut Legende ist das in Nincshof schon einmal so gewesen. Ausgerechnet die alte Erna Rohdiebl soll dabei helfen, dass dieses Vorhaben gelingt, denn die drei Männer glauben, dass die alte Frau die Freiheit im Blut hat und daher genau die Richtige für ihre Bewegung ist. Erna Rohdiebl wiederum hat in ihrem langen Leben selten Dümmeres als die Idee zu verschwinden gehört, aber ihre Neugierde siegt. Abend für Abend poltern die Oblivisten an ihre Eckbank und plotten bei Speckbroten und Pusztafeigenschnaps ihr Verschwinden. Alles scheint nach Plan zu verlaufen. Wenn da nicht die Neuen aus der Stadt wären. Ein turbulenter Sommer nimmt seinen Lauf!

Ein turbulenter Sommer beginnt, und es entspinnt sich eine Geschichte über das Vergessen und das Erinnern. Über das Leben und seine Irrwitzigkeiten. Übers Heutige und Gestrige. Über die Komik von Landkarten, das Fiktive an der Realität und die Wirklichkeit von Ausgedachtem.

Audiopitch_NincshofJohanna Sebauer, »Nincshof«
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Leseprobe

ZUM GELEIT

 

Nincshof ist das Dorf. Auf den ersten Blick, wie jedes Dorf, in keiner Weise besonders. Auf den zweiten, wie jedes Dorf, einzigartig. Dort, wo man heute das östliche Ende von Österreich findet, wo man die Reste der Alpen nur an sehr klaren Tagen in der Ferne sehen kann, wie sie sich aufrichten, ein letztes Mal. Wo sonst keine Erhebung den Blick stört, wo der Horizont weit ist und die Sehnsüchte groß sind, dort, unweit des Neusiedler Sees, einer salzigen graubraunen Lacke, direkt neben dem Einser-Kanal, einem trägen Rinnsal, das die Grenze zu Ungarn markiert, duckt sich Nincshof mitten hinein ins Schilf. Ein paar Gassen, ein paar Häuser, Weingärten, Gurkenäcker und rundherum viel Nichts.

   Im Winter pfeift der Wind über das gesichtslose Weißgrau dieses flachen Landstrichs und bringt eine Kälte mit, an der, so erzählt man sich, manch einer schon erblindet sei. Im Sommer wird die Luft schwer und zäh wie Kleister. Nur die Chöre der Grillen durchdringen sie mit ihrem Gesang. Wer nach Nincshof kommt, der will dorthin. Der Zufall, das würde er nie wagen, führt hier niemanden her. Auch dann nicht, wenn es, wie in dieser Geschichte, danach aussehen mag.

   Warum das Dorf ist wie jedes andere, ist schnell erzählt. Eine Kirche gibt es hier, ein Wirtshaus mit Schanktheke aus dunklem schwerem Holz und eine Bäckerei, in der man in der Mittagspause die Schaufenster mit Spitzenvorhängen zuzieht, in die sich über die Jahre ein satter Gelbstich gewoben hat. In eingeschossigen Häusern, weiß, buttergelb und bübchenblau, wohnen die Lebenden. Auf einem wild verwachsenen Friedhof unter alten Kastanienbäumen ruhen die Toten. Dazwischen schweben, wie in jedem Dorf, ein paar Heilige, ein paar Heldinnen, ein paar Helden und ein paar Legenden.

   Dass das Dorf nicht ist wie jedes andere, sieht nur, wer nähertritt. Das Ohr an die Türen legt und lauscht, dem Zungenschlag, der anders klingt als in den Dörfern drumherum. Nur ganz sacht anders. Wer den Nincshofern und vor allem den Nincshoferinnen in die Gesichter schaut, ganz lange, der erkennt, dass es besondere Gesichter sind. Nur ganz sacht besonders. Nicht so, dass man mit einem entlarvenden Finger darauf deuten und sagen könnte: »Seht! Die Nasen sind länger, die Augen klarer und die Münder breiter.« Besonders ist, was hinter den Gesichtern liegt. Einem noch nie dort Gewesenen nur sehr schwer zu beschreiben. Dass das Dorf nicht ist wie jedes andere, hat auch damit zu tun, – und hier begänne eine, möglicherweise die wichtigste, dieser Legenden –, dass es einst sogar noch viel weniger so gewesen ist wie jedes andere Dorf. Wie genau es einst und ob überhaupt, das weiß, so die Natur einer jeden guten Legende, heute kaum noch einer mit Sicherheit. Und dies ist, so die Natur einer jeden guten Legende, auch nicht wesentlich. Viel wesentlicher ist, dass die, die wollen, darüber streiten und – das ist vielleicht am wesentlichsten – davon träumen können. Wenngleich in Nincshof die Streiter und die Träumer heute fast verschwunden sind.

   Fast.

In diesem sonderbaren Dorfe im äußersten Zipfel Österreichs wurde vor rund achtzig Jahren – und dies ist keine Legende – in einer heißen Sommernacht, in der Blitze den schwarzen Himmel erhellten und der Donner die Fensterläden in ihren Angeln scheppern ließ, in einem Schweinestall Erna Rohdiebl geboren. Eine Geburt so marternd, dass die Gebärende, Erna Rohdiebls Mutter Euphelia, in Momenten, in denen die heftigsten Krämpfe ihren Körper zu zerreißen drohten, die saftigen Blüten auf den leuchtenden Blumenwiesen des Jenseits bereits riechen konnte. Anderthalb Tage wallte ihr Leib, doch das kleine Leben in ihm rührte sich nicht. Mit zerzaustem Haar und wildem Blick irrte die Mutter Euphelia über den Hof wie eine Traumwandlerin und schrie verzweifelt. Familie und Nachbarn, die zu Hilfe geeilt waren, hinderten sie nicht daran. In Nincshof gab es damals nicht viele Regeln, aber eine, an die sich alle mit eiserner Konsequenz hielten: Nur vor zweierlei Gestalten hatte man als Mensch demütig zu schweigen – vor dem lieben Gott und vor einem niederkommenden Frauenzimmer.

   Unzählbare Runden zog Mutter Euphelia in quälendem Wahn über den Hof, bis sie sich der Erschöpfung ergab und im Stall zwischen zwei Mastsäuen niedersank. Irgendwann lag, einem Wunder gleich, die kleine Erna Rohdiebl doch endlich im Stroh. Käsig verschmiert und bläulich schimmernd. Mit letzter Kraft schaffte Mutter Euphelia es, sich aufzurichten, das klebrige Neugeborene an seinen dünnen Beinchen hochzuheben und ihm sanft auf den Popsch zu klopfen, ein Röcheln, ein Blubbern, ein Schrei, bevor sie, die tapfere Kriegerin, zurücksank ins Stroh, wo kein Stroh mehr war, sondern nur noch Blumen, duftend, bunt und weich. Es war Erna Rohdiebls Großmutter Martha, die das feuchte Kind an sich nahm und der bleichen Mutter sanft die Lider schloss.

   In Großmutters Armen wuchs das Neugeborene zum Kleinkind, zum Mädchen, zur Frau. Unter ihren strengen Augen schritt sie durch die Tage und lernte das Leben. Unter ihren rätselhaften, leise ins schwarze Zimmer hineingemurmelten Märchen glitt sie in die Nächte und lernte das Träumen. Der Großmutter Gutenachtgeschichten waren fantastischer als alles, was die kleine Erna Rohdiebl kannte. Lange dachte sie, es läge daran, dass diese Geschichten bloß so selten aus der Großmutter herauskamen, dieser schweigsamen Frau, und dass deshalb die Geschichten und die traumprallen Nächte, die auf die Geschichten folgten, etwas ganz Besonderes waren. Erst spät im Leben, nämlich just in jenem Sommer, in dem die folgende Geschichte sich zutrug, sollte Erna Rohdiebl bewusst werden, dass es einen anderen Grund dafür gab. Die Großmutter Martha war, bis zu jenem Sommer nämlich, die letzte große Träumerin von Nincshof.

 

Die folgende Geschichte nun beginnt am ersten Tag eines noch nicht allzu lange zurückliegenden Junis. Ein Tag, an dem der Sommer noch nicht offiziell begonnen hatte, an dem sich so doch entschied, was für ein Sommer es werden würde. Die Nincshofer Sommer glichen einander für gewöhnlich wie ein Schilfhalm dem nächsten. Alle waren sie ähnlich heiß, grell und träge. Jener aber, der an diesem ersten Junitag begann, sollte anders werden. Unvergesslich, würde manch einer sagen, der es nicht besser weiß. Einer, der gar meint, nur was erinnert werde, habe Wert.

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